„Die Ermordeten sollen nicht noch um das Einzige betrogen werden, was unsere Ohnmacht ihnen schenken kann – das Gedächtnis.“ Dieser Mahnung von Theodor W. Adorno kommt der Deutsche Bundestag im Jahr 2023 endlich mit Blick auf die NS-Opfer nach, die auf Grund ihrer sexuellen Orientierung verfolgt, inhaftiert und ermordet wurden. Hierzu erklärt Henny Engels, Mitglied im Bundesvorstand des Lesben- und Schwulenverbandes (LSVD):

Der Deutsche Bundestag plant, am 27. Januar 2023 in der jährlichen Gedenkstunde an die Opfer des Nationalsozialismus an diejenigen zu erinnern, die auf Grund ihrer sexuellen Orientierung im NS-Staat verfolgt, inhaftiert und ermordet wurden. Jahrelang wurde dies von vielen Gruppen, Verbänden und Einzelpersonen gefordert. Hervorzuheben ist hier insbesondere eine von Historiker*innen, Vertreter*innen unterschiedlicher Opfergruppen und Vertreter*innen diverser gesellschaftlicher Gruppen unterstützte Petition von 2018. Bei der ersten Gedenkstunde 1996 nannte der damalige Bundespräsident Roman Herzog auch Homosexuelle als Opfergruppe nationalsozialistischer Verfolgung. Eigens gedacht hat der Bundestag dieser Opfer bisher nicht.

Umso mehr begrüßen wir, dass das amtierende Bundestagspräsidium beschlossen hat, im kommenden Jahr diese Opfergruppe ins kollektive Gedächtnis zu rufen. Um aus allen ihren Facetten Lehren zu ziehen, muss Geschichte umfassend lebendig gehalten werden. Denn nach dem Ende des Nationalsozialismus gingen Ausgrenzung und Leiden für sexuelle und geschlechtliche Minderheiten in Deutschland leider immer noch weiter. Schwule und bisexuelle Männer wurden in beiden deutschen Staaten noch jahrelang strafrechtlich verfolgt. Erst 1994 wurde der § 175 StGB endgültig abgeschafft. Jahrelang und oft erfolglos kämpften viele der nach § 175 Verurteilten um eine Rehabilitierung und Entschädigung. Lesbischen Frauen konnte bis in die 1980er Jahre das Sorgerecht für ihre Kinder entzogen werden, weil Familiengerichte eine Kindeswohlgefährdung unterstellten. Und selbst heute steht die Anerkennung eines umfassenden Selbstbestimmungsrechts für trans- und intergeschlechtliche Personen aus.

Ein Gedenken an homosexuelle NS-Opfer ist auch deshalb bedeutsam, weil der Bundesrepublik Deutschland als Konsequenz aus den Verbrechen des NS-Staates eine besondere Verantwortung zukommt, wenn Menschenrechte in Deutschland und weltweit bedroht sind. Innenpolitisch heißt dies, allen Formen von Diskriminierung und Gewalt gegenüber sexuellen und geschlechtlichen Minderheiten entschlossen entgegenzutreten. Dieser Verpflichtung könnte Deutschland in hervorragender Weise gerecht werden, indem der Diskriminierungsschutz des Grundgesetzes in Artikel 3 zeitnah um den Schutz sexueller und geschlechtlicher Minderheiten ergänzt wird. Auch im Jahr 2022 wird Homosexualität in rund 70 Staaten noch strafrechtlich verfolgt; in 40 Ländern sind ausdrücklich auch lesbische Frauen betroffen. In zwölf Ländern droht Homo- und Bisexuellen die Todesstrafe. Deshalb ist die Bundesrepublik auch in ihrem außenpolitischen Handeln gefordert.

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